Was agile Teams von gewaltfreier Kommunikation lernen können
Selbstorganisation von Teams ist ein wesentlicher Empowerment-Faktor, der in der New Work- und Agilitäts-Thematik diskutiert wird. Wir müssen den Teams und Individuen nur mehr Autonomie, Entscheidungs- und Gestaltungsfreiraum zur Verfügung stellen, dann stellt sich Selbstorganisation von allein ein. Dieser Ursache-Wirkungs-Kette Glaube zu schenken ist jedoch etwas zu optimistisch. Selbstorganisation ist eine Teamkompetenz, die langfristig entwickelt und stetig hinterfragt und optimiert werden muss. Nicht selten kann eine zu schnell geforderte Selbstorganisation ins Gegenteil verkehren. Dann stärkt Selbstorganisation nicht das Team, sondern schwächt es aufgrund von Überforderung und Überlastung. Selbstorganisation als Teamkompetenz in den Fokus von Teamentwicklung zu stellen ist einer der Erfolgsfaktoren für gelingenden agilen Wandel.
Was bedeutet überhaupt Selbstorganisation und welche Kompetenzen stecken dahinter?
In Anlehnung an Rousseau und Aubé (2010) können wir Selbstorganisation bzw. Selbstmanagement von Teams wie folgt definieren: Selbstorganisation ist die Fähigkeit von Teams, gemeinsam Verantwortung für die Ausrichtung der Aufgabenerfüllung auf das Erreichen gemeinsam festgelegter Ziele übernehmen zu können. Demzufolge können folgende Kernkompetenzen für selbstorganisierte Teams identifiziert werden:
Festlegung gemeinsamer Ziele
Gemeinsame Planung und Koordination der Aufgaben zur Zielerreichung
Gemeinsame Klärung von Rollen und Verantwortlichkeiten
Entscheidungsfindung im Team
Umgang mit und Lernen aus Fehlern / kontinuierliche Verbesserung
Gegenseitige Korrektur und Feedback
Gemeinsame Übernahme von Verantwortung
Jede einzelne Aufgabe fordert, dass man gemeinsam auf Augenhöhe arbeitet und zu einem Ergebnis kommt. Grundlegend für den Erfolg dieser Zusammenarbeit ist ein gegenseitiges Verständnis und ein gemeinsamer Weg der Kommunikation, welche den Teamprozess und die Motivation stärken. Das Konzept der gewaltfreien Kommunikation als Grundhaltung und Reflexionstool kann dem Team helfen, diesen Umgang zu finden und langfristig ein funktionierendes, stabiles Team aufzubauen.
Gewaltfreie Kommunikation als Sprache des Lebens
Gewaltfreie Kommunikation (GfK) wurde als Konzept von dem US-amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg (1934-2015) entwickelt und kann als das Rezept für einen wertschätzenden Umgang miteinander verstanden werten. Er bezeichnet GfK als eine „Sprache des Lebens“, die darauf basiert, dass wir in unserer Menschlichkeit unsere natürliche Kompetenz für Empathie und Wohlwollen gegenüber unseren Mitmenschen wiederentdecken. Die Autorinnen des Buchs „New Work Needs Inner Work“ (2019) fassen die Grundhaltung der GfK wunderbar in einem Satz zusammen: „ICH begegne selbstverantwortlich DIR mit Empathie und Akzeptanz, damit WIR gemeinsam Lösungen, Kooperationen und einen wertschätzenden Umgang miteinander gestalten.“ Diesen Satz sollten selbstorganisierte Teammitglieder in ihre eigene Grundhaltung übernehmen. Dabei hilft es, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass jede Person für jedes ihrer Verhaltensweisen immer die für sich im Moment beste Handlungsoption auswählt, auch wenn wir dies zunächst nicht nachvollziehen können.
Rosenberg schlägt vier Schritte vor, um anderen unsere Gedanken, Beobachtungen, Bedürfnisse und Wünsche auf einer konstruktiven und wertschätzenden Art und Weise näher zu bringen. Diese vier Schritte sollten weniger als Gesprächsvorlage gesehen werden, sondern viel mehr als Hilfestellung zur individuellen oder auch gemeinsamen Reflexion vor oder nach wichtigen Kommunikationssituationen. Daher eignet sich das Raster auch sehr gut für eine Teamreflexion in Retrospektiven, in denen selbstorganisierte Teams auf die gemeinsame Arbeit im letzten Sprint blicken, um zu besprechen, was gut und nicht so gut gelaufen ist und daraus Ziele, Maßnahmen oder Aufgaben für den kommenden Sprint herausarbeiten. Das vorgestellte Template für GfK-Retrospektiven kann ich aus meiner eigenen Praxis sehr empfehlen. Es ist jedoch sehr hilfreich, vor der eigentlichen Reflexion das Verständnis für das Modell bzw. für die vier Schritte zu schärfen:
Schritt 1: Beobachtung beschreiben
Wir wissen, dass frühzeitige Interpretationen und Bewertungen zu Widerständen und damit zur Dissoziation zwischen uns und unserem Gegenüber führen. Daher ist es im ersten Schritt sehr wichtig, eine Situation oder eine Verhaltensweise lediglich objektiv zu beschreiben ohne jegliche Schuldzuweisungen und kritisierende, abwertende oder bewertende Zuschreibungen. Hier ist ein Beispiel für eine Beschreibung in einer Retrospektive:
Ich habe im Sprint beobachtet, dass die Gesprächsanteile im Daily sehr ungleichmäßig verteilt sind und für die gleichen Personen (Person X und Y) oft keine Zeit bleibt, ein Update zu geben und mögliche Arbeitshindernisse aufzubringen.
Häufig fällt es uns leider nicht so einfach, Beschreibungen von der Bewertung zu trennen, da Bewertungen von Umweltreizen für unseren Organismus eine überlebenswichtige Funktion einnehmen und z.T. bereits unwillkürlich ablaufen (Einschätzung von Bedrohungen). Sie helfen uns im Alltag, weil sie der Komplexitätsreduktion in unserem Gehirn dienen. In diesem Sinne „sollten wir auch unsere Bewertungen nicht abwerten“ (Zitat von Gunther Schmidt). Aber wir können einen Umgang mit ihnen finden, um diese subjektiven Empfindungen in Kommunikationssituationen heraushalten.
Schritt 2: Gefühle ausdrücken
Nach der Beobachtungsbeschreibung hilft es uns, in unsere Gefühlswelt hineinzublicken und unsere persönlichen Empfindungen zu teilen. In Anlehnung an das obige Beispiel könnte ein Gefühlsausdruck lauten:
Diese Situation hat mich in dem letzten Sprint ganz schön geärgert, …
Gefühle auf eine bestimmte Situation können individuell sehr unterschiedlich sein. Zum Beispiel kann sich jemand zutiefst über eine bestimmte Entscheidung ärgern, wobei eine andere Person froh ist, dass ein Thema endlich vom Tisch ist oder wiederum eine dritte Person sogar sehr glücklich mit genau dieser Entscheidung ist. Wenn wir unsere Gefühle mitteilen, hilft dies unserem Gegenüber dabei, empathisch zu sein und sich in unsere Perspektive hineinzuversetzen. Doch der Schritt der „Gefühlsoffenbarung“ hilft nicht nur unserem Gegenüber, sondern in erster Linie auch uns selbst dabei, unsere Gefühle, welche stark mit einer voreiligen Bewertung zusammenhängen, als subjektive Reaktion zu verstehen. Damit öffnen wir einen Raum, der ggf. auch andere Interpretationen einer Situation zulassen könnte.
Schritt 3: Bedürfnisse mitteilen
Dieser Schritt ist der eigentliche Kern der GfK, der den Wandel von einer möglichen Dissoziation von meinem Gegenüber zu einer konstruktiven Beziehungsgestaltung schafft. Es werden die hinter den Gefühlen steckenden Bedürfnisse angesprochen und dadurch eine gemeinsame Verbindung hergestellt, weil mein Gegenüber so meine Gedankengänge und Beweggründe nachvollziehen kann. Das Bedürfnis in unserem Beispiel könnte sein:
… da ich das Bedürfnis habe, dass alle Personen einen ungefähr gleichen Gesprächsanteil haben und wir als Team die Aufgabe haben, darauf zu achten.
Die Verbundenheit der Gesprächspartner entsteht auf der Basis der Bedürfnisse, da wir mehr oder weniger ausgeprägt alle die gleichen Bedürfnisse haben, z.B. nach Autonomie, Sicherheit oder sozialer Zugehörigkeit. Deshalb entstehen auf dieser Ebene eine Nachvollziehbarkeit und ein gegenseitiges Verständnis. Bedürfnisse müssen auch von Strategien getrennt werden. Hier ein Beispiel für zwei Strategien, die als Bedürfnis getarnt sind: Person A sagt „Ich habe das Bedürfnis, dass wir den Redebeitrag von jeder Person stoppen müssen, damit wir die 15 Min Timebox einhalten“ und Person B sagt „Ich habe das Bedürfnis, dass wir das Daily länger machen sollten, bis alle zu Wort kommen“. Obwohl die Personen den Begriff „Bedürfnis“ verwenden, nennen sie eigentlich Strategien, die zudem auf den ersten Blick sehr gegensätzlich klingen und neues Konfliktpotenzial liefern könnten. Wenn die Personen A und B aber wirklich auf ihre eigenen Bedürfnisse schauen und diese mitteilen, dann finden sie höchstwahrscheinlich heraus, dass sie das gleiche Bedürfnis haben - das Bedürfnis nach einem fairen Prozess.
Schritt 4: Bitten / Wünsche formulieren
Wenn das gemeinsame Verständnis erreicht ist, ist der beste Zeitpunkt, um unsere Verbesserungsvorschläge in der Form einer Bitte oder eines Wunsches zu äußern – zumindest, wenn ich möchte, dass sich mein Gegenüber diesen Vorschlag auch anhört. Dabei ist auch hier immer im Auge zu behalten, dass ein Verbesserungsvorschlag auch aus einer subjektiven Empfindung heraus entsteht und es viele verschiedene Optionen geben kann, um einem bestimmten Bedürfnis nachzukommen. Somit ist die Bitte immer auch ein Schritt in eine gemeinsame Diskussion, in welcher ein Konsens darüber erreicht werden soll, ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen. Für unser Beispiel bedeutet dies:
Ich wünsche mir vom Team, dass wir eine Lösung dafür finden, wir die den Prozess im Daily verbessern können, um diesen fairer zu gestalten und jedem Teammitglied den gleichen Raum geben, sich zu äußern. Eine Möglichkeit könnte sein, dass wir vor jedem Daily die Reihenfolge neu losen und damit variieren. Habt ihr noch andere Ideen?
Die Bitte ist keine Forderung, sondern eine Einladung, etwas Bestimmtes zu tun, die auch jederzeit abgelehnt oder neu diskutiert werden darf. Sie ist mein Vorschlag dafür, was ich denke, was meinem Leben oder unserem Leben als Team guttun würde.
Gewaltfreie Selbstorganisation als Ziel
Gewaltfreie Kommunikation ist kein Template, dass in jeder Gesprächssituation eingehalten werden muss – es geht viel mehr um eine Grundhaltung, die insbesondere auch der Zusammenarbeit und Zielerreichung in der Selbstorganisation dienen kann. Denn gewaltfreie Selbstorganisation bedeutet, dass sich Teammitglieder einander zuhören, gegenseitiges Verständnis aufbringen und auf dieser Grundlage gemeinsam bestmögliche Lösungen entwickeln. Sie schaffen einen Raum, in dem Themen angesprochen werden, Risiken eingegangen und aus Fehlern gelernt werden können. Gewaltfreie Selbstorganisation schafft einen Raum von psychologischer Sicherheit und Verbundenheit in Teams. Dies ist eine Grundvoraussetzung für eine langfristige Leistungsfähigkeit, Kreativität und Innovationskraft von Teams. Auch wenn es uns manchmal nicht leichtfällt, unsere subjektiven Interpretationen zurückzuhalten, ist dieser erste Schritt der wichtigste, um neue Lösungsräume nicht zu verschließen, sondern zu öffnen.
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