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Agile Burnout – Ausgebrannt mit Selbstbestimmung

Agilität ist heutzutage nicht nur eines der beliebtesten Buzzwords, sondern auch eine Antwort für Unternehmen, um in einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen (VUCA) Arbeitswelt langfristig zu überleben. Agile Methoden, wie z.B. Scrum und Kanban, werden heute weltweit vor allem in der Softwareentwicklung, aber auch in allen anderen Branchen und Funktionsbereichen getestet und eingesetzt. Agile Arbeit bedeutet Selbstorganisation der Teams, enge Zusammenarbeit mit dem Kunden, Fokussierung auf Qualität, Produktion in kurzen Zeitzyklen, häufige Produktreleases und kontinuierliche Verbesserung, um nur die wichtigsten agilen Prinzipien zu nennen (siehe Appelo, 2011).


Die Vorteile der Einführung agiler Methoden für das Unternehmen sind vielfältig und überzeugend, wie z.B. eine erhöhte Geschwindigkeit, Teamproduktivität, Vorhersehbarkeit und Softwarequalität (VersionOne, 2019). Darüber hinaus gibt es Befunde, dass die Arbeitszufriedenheit in agilen Teams höher ist als in Teams, die eher klassische Projektmethoden anwenden (Tripp, Riemenschneider, & Thatcher, 2016). Uns scheint es zu gefallen, in dynamischen Umgebungen zu arbeiten, die darauf ausgerichtet sind, schnell auf sich ändernde Anforderungen zu reagieren und in kurzer Zeit hohe Qualität mit einem hohen Maß an Autonomie zu liefern. Auf den ersten Blick ist Agilität damit nicht nur eine perfekte Lösung für die heutigen Herausforderungen im Business, sondern auch um die Erwartungen der jungen Generation an den Arbeitsmarkt, z.B. eine hohe Teamorientierung und einen hohen Grad an Autonomie, zu erfüllen.


Jedoch könnten der Fokus auf kontinuierliche Verbesserung, das Arbeiten in kurzen Zyklen, sich ständig ändernde Anforderungen und ein hohes Maß an Verantwortung auch andere Effekte mit sich bringen, und so auf der anderen Seite auch ein erhöhtes Risiko für das Stresslevel eines Einzelnen darstellen. Hier kommen die Begriffe Agile Fatigue („Müdigkeit“) und Agile Burnout ins Spiel, die verschiedene Ursachen haben können. Dieses Thema habe ich mit einer Kollegin bei einem Workshop zum 4. agiLE Barcamp in Leipzig, welches am 14. und 15. September stattgefunden hat, gemeinsam mit über 30 Teilnehmern diskutiert, und bin dabei auf großes Interesse sowie verschiedene Erfahrungsberichte zu Burnout-Fällen und Risikofaktoren gestoßen. So haben wir herausgefunden, dass verschiedene agile Arbeitselemente jeweils in einem Spannungsfeld gesehen werden können, ein Spannungsfeld zwischen gesundheitlichem Risikofaktor und einer Ressource, warum agile Arbeit so gut funktioniert.



Ergebnisse vom Workshop „Agile Burnout“ zum agiLE Barcamp (14./15.9.2019)


 

Scrum sowie andere agile Ansätze empfehlen ein tägliches Synchronisationsmeeting („Daily Standup“), bei dem der Arbeitsfortschritt jedes Einzelnen visualisiert und transparent wird. Dieses kurze, meist 15minütige Meeting, dient der Abstimmung und Zusammenarbeit der Teammitglieder – danach sollte jeder auf dem neusten Stand sein und wissen, wie er oder sie mit den Aufgaben weiterkommt. Zudem hilft das Meeting, das Sprintziel nicht aus dem Auge zu verlieren. Jedoch kann das Aufgabenboard auch ein Gefühl von Kontrolle und individueller Leistungsmessung auslösen und damit Leistungs- und Zeitdruck sowie Stresslevel deutlich erhöhen. Eine tägliche Wiederholung von immer wieder dem gleichen Ablauf mit den gleichen Fragen kann zudem auch ermüdend wirken. Nimmt man noch das Timeboxing von 15 Minuten dazu, könnte das Gefühl auftauchen, dass man schnell durch das Meeting hetzt aber keine Zeit für wirkliche Anliegen und einen intensiven Austausch hat. Hier besteht die Schwierigkeit den Mittelweg zwischen langen, unproduktiven Diskussionen und einem „sich gehetzt fühlen“ zu finden.


Auch die Arbeit in kurzen Produktionszyklen von zwei bis vier Wochen, den sogenannten Sprints, kann negative Nebeneffekte mit sich bringen. Allein der Begriff „Sprint“ könnte indirekt Druck aufbauen, da dieser impliziert, ein Ziel sehr schnell zu erreichen und alle physischen Ressourcen für eine kurze Strecke voll einzusetzen. Das Problem im agilen Kontext ist jedoch, dass ein Sprint auf den nächsten folgt und keine Erholungspausen dazwischen eingeplant sind, obwohl wir aus dem Sport wissen, dass es unmöglich ist, verschiedene Sprints in Folge ohne Nachfüllen von physischen Reserven durchzuführen. Zudem bringt eine Arbeit in kurzen Zyklen meist auch nur einen Fokus auf kurzfristige Ziele mit sich, womit aber das langfristige, sinnhafte Ziel der eigenen Arbeit vielleicht aus den Augen verloren wird. Stress wird zusätzlich erhöht, wenn immer mehr Aufgaben in einen Sprint gezogen werden und die Arbeit am Ende nicht mehr ohne Mehraufwand geschafft werden kann, aber das Sprintziel unter keinen Umständen gefährdet werden soll. Auf der anderen Seite sollte das Sprint-Format das Team schützen, da nur priorisierte und geplante Aufgaben bearbeitet werden und wenig bis keine Zwischenstörungen und ändernde Anforderungen von der Arbeit ablenken.


Kurze Zeiten können zudem besser geplant werden, und Feedback und -abstimmung mit Kunden und anderen wichtigen Stakeholdern kann in kurzen Abständen stattfinden. Dies ermöglicht Orientierung, gemeinsames Lernen und eine erhöhte Kundenzufriedenheit. Jedoch geben diese regelmäßigen Feedbackmeetings den Stakeholdern auch die Möglichkeit, immer höhere und kurzfristigere Anforderungen an das Team zu stellen, und somit eine langfristigere Perspektive über mehrere Sprints hinweg zu versperren, die für den Sinn und die Motivation in der Arbeit aber entscheidend ist.


Regelmäßige Retrospektive Meetings dienen zudem einer gemeinsame Reflexion, sowie gegenseitigem Feedback und Lernen mit Fokus auf die Zusammenarbeit und den Arbeitsprozess. Diese Meetings müssen jedoch effektiv moderiert werden, da sonst ein hohes Risiko besteht, dass zusätzlich Druck, Stress und Konflikte im Team aufkommen, die nicht gelöst werden können.



Graphisches Recording unseres Workshops „Agile Burnout“ von Tiziana Beck


 

Wenn der agile Leitsatz „kontinuierliche Verbesserung“ zur Maxime wird, und sich alles darauf ausrichtet, kann dies ebenfalls zu erhöhter Stressbelastung führen. Neben anderen Metriken wird die Teamproduktivität bzw. -geschwindigkeit häufig als Velocity-Kurve gemessen, welche den Arbeitsaufwand (in Story Points) pro Sprint darstellt. Diese sollte lediglich für die Sprintplanung Orientierung geben und eine Reflexion des Teamprozesses auf längere Sicht ermöglichen. Jedoch kann sie auch für eine Messung der Teamperformance, im schlimmsten Fall auch zum Vergleich verschiedener Entwicklungsteams im Unternehmen missbraucht werden. Letzteres ist schon allein deshalb stark verwerflich, da Storypoints als Metrik selbst bei ähnlichem Verständnis in den Teams unterschiedlich interpretiert werden und demzufolge nicht vergleichbar sind.


Darüber hinaus können lange dynamische, nicht-enden-wollende Aufgabenlisten, so genannte Backlogs demotivieren und zur Müdigkeit führen, auch wenn sie im Vordergrund ihren Sinn zur Planung, Priorisierung und Flexibilisierung der Aufgaben erfüllen.


Nichtzuletzt kann das Konstrukt der Teamautonomie und Eigenverantwortung auch zwiespältig gesehen werden. Im positiven Sinne bringt Autonomie Motivation und Commitment mit sich, Entscheidungswege werden kürzer und Komplexität wird reduziert. Jedoch kann vielleicht nicht jeder mit der ungewohnten Verantwortung umgehen, selbst zu entscheiden und für Entscheidungen gerade zu stehen. Je nach Persönlichkeit könnte dies zusätzlichen Druck aufbauen.


Allein anhand der ausgewählten Elemente agilen Arbeitens können wir sehen, dass jedes Element in seinem Zweck und in seiner Auswirkung ambivalent gesehen werden kann und das Feld zwischen Risikofaktor für Stress und Burnout sowie effektivem agilen Arbeiten in Motivation und psychischer Gesundheit sehr dünn ist. Daher ist es wichtig, insgesamt für das Thema Burnout in agilen Teams zu sensibilisieren und die Risiken zu kennen. Und natürlich stellt sich die Frage, wie wir Burnout Risiko vermeiden und die positiven Effekte agilen Arbeitens bestenfalls nutzen können. Für die Praxis sind deshalb nachfolgend ein paar Interventionsvorschläge aufgeführt, die bei der Einführung agiler Methoden sowie bei der Arbeit mit agilen Teams helfen sollen:

  • Allgemein: Sensibilisierung von Teams und Führungskräften für die Risikofaktoren für Burnout in agilen Arbeitsweisen

  • Teams möglichst klein und stabil halten, um eine angemessene, gegenseitige soziale Unterstützung zu fördern

  • Förderung einer Fehler- und Lernkultur, d.h. eine offenen Kommunikation über Misserfolge mit einem Fokus auf „was lernen wir daraus“ wird gelebt

  • Implementierung einer positiven und konstruktiven Feedbackumgebung und Stärkung der Feedbackkompetenz der Teams

  • Sicherstellung, dass der Backlog gerade gut genug ist, aber nicht perfekt und nicht zu detailliert, da der Backlog ein sich entwickelndes Artefakt ist und nicht zu viel Druck auf das Team ausüben sollte

  • Einplanung von zusätzlichem Zeitaufwand in jedem Sprint, um an Technischen Schulden zu arbeiten (in Teamverantwortung), ohne dass die Aufgabenliste länger und länger wird

  • Raum für Kreativität lassen und Regenerationspuffer einplanen, z.B. Sprintwechsel ist frei von Entwicklungsarbeit, projektfreie Tage sind eingeplant, Zeit für Teamaktivitäten

  • Sorgfältiger Umgang mit Velocity und anderen Messgrößen für die Teamleistung (weniger ist mehr) und Sicherstellung eines nachhaltigen Tempos im Team

  • Effektive Meetings durch den Einsatz von Time Boxing zur Strukturierung und Orientierung, aber nicht, um Einzelpersonen und wichtige Themen, die angegangen werden müssen, „abzuschneiden“

  • Einsatz von Visualisierung und Transparenz nur mit dem Fokus auf gegenseitiger Unterstützung und Abstimmung, nicht aber auf individueller Leistungsbeurteilung

  • Autonome Entscheidungen können innerhalb des Teams gelebt werden, z.B. Planung und Schätzung auf der Grundlage von Teamerfahrungen (Vermeidung von nicht-agilem Mikromanagement und autoritären Entscheidungen des Managements)

  • Vermeidung unnötiger und zeitaufwendiger Dokumentation und Overhead

  • Schaffung von Raum für die Verbesserung der Strukturen für Kommunikation und Zusammenarbeit

  • Etablierung einer kontinuierlichen Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung für alle Teammitglieder, da Selbstreflexion und zwischenmenschliche Fähigkeiten ein Schlüsselfaktor für die Leistung autonomer Teams sind

Insbesondere dem/der agilen Coach oder Scrum Master fällt hier eine entscheidende Rolle zu, da die Person in dieser Rolle nicht nur ein Experte für agile Methoden und Praktiken ist, sondern auch wissen sollte, wie man Teamentwicklung und Gruppendynamik steuert. Außerdem muss die Person zugleiche ein guter Kommunikator für das Team als auch für die Interessengruppen außerhalb des Teams sein, um zu vermitteln und das Team vor Störungen zu schützen. Im Idealfall beinhaltet die Rolle auch das Coaching von Einzelpersonen und Teams, die Vermittlung von Teamkonflikten, die Förderung von Respekt, Zusammenarbeit und Feedback innerhalb des Teams und die Sicherstellung, dass sensible Themen (wie z.B. in Retrospektiven diskutiert) im Team bleiben. Darüber hinaus sollte der agile Coach ein größeres Bild von und eine hohe Reichweite in die Organisation und das Management haben sowie ein aktiver Teilnehmer oder sogar Initiator eines kulturellen Wandels sein, um eine agile Denkweise innerhalb der Organisation zu entwickeln. Mit diesem Einfluss kann er oder sie es schaffen, die gesundheitlichen Risikofaktoren für Stress im agilen Arbeiten möglichst gering zu halten und agiles Arbeiten nicht nur für den Businesserfolg, sondern auch für ein langfristiges Wohlbefinden der Entwickler bei der Arbeit zu sorgen, was nicht zuletzt wiederum Auswirkung auf die Geschäftszahlen haben wird.

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